Ordentliche Beschreibung eines ungeordneten Universums

Wissenschaft und Komplexität

L’ordre n’a pas d’importance? Dieses Werk der Belgierin A. Veronica Janssens ist Behauptung und Versuch eines Beweises zugleich. Und genau über diese Frage würde ich gern mit Ihnen laut nachdenken:

  • Ist Ordnung der Natur inhärent oder ist sie ein Konstrukt, dass uns Menschen das Denken vereinfacht?
  • Wie entsteht Ordnung überhaupt und warum hat sie keinen Bestand?
  • Unter welchen Umständen kann Ordnung spontan aus Unordnung entstehen?

Naturwissenschaftler vorgerückten Alters stehen immer in der Gefahr, sich selbst mit Philosophen zu verwechseln. Ich werde heute unvermeidlich in diese Falle tappen. Und Sie dürfen mir dabei zusehen und zuhören, gerne auch mitdenken und mitdiskutieren. Wir sollten dabei keine Angst haben, nachzudenken, was andere vor uns bereits gedacht haben. Denn selber denken ist ja nicht deshalb schlecht, weil wir vielleicht zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen wie andere vor uns. Obwohl es natürlich interessanter wäre, wenn wir zu neuen Erkenntnissen kämen.

Beginnen wir also mit einer Definition unseres Themas, die ich besonders treffend finde. Sie stammt von dem belgischen Philosophen und Systemtheoretiker Heylighten (die Übersetzung aus dem Englischen ist von mir):

„Geordnete Systeme, wie z.B. Kristalle, sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Komponenten strengen Regeln oder Einschränkungen unterworfen sind, die bestimmen, wie jede Komponente von den übrigen abhängt. Ungeordnete Systeme, wie z.B. Gase, bestehen aus unabhängigen Komponenten, die ohne Einschränkungen handeln. […] In einem wahrhaft komplexen System, auf der anderen Seite, sind die Komponenten in einem gewissen Masse unabhängig und damit autonom in ihrem Verhalten […]. Das macht es schwierig, das globale Verhalten des Systems vorherzusagen, obwohl es nicht zufällig ist.“²

Schauen wir uns um in unserer unmittelbaren Umgebung, wie z.B. auf einer Bergwiese. Wenn wir etwas genauer hinschauen finden wir Hunderte, wenn nicht Tausende Pflanzen und Kleinlebewesen, die alle miteinander in Beziehung stehen und dieses Biotop bilden. Und eine beschreibende Ordnung dieser Vielfalt gibt es natürlich, spätestens seit Carl von Linné und seinem Klassifikationssystem³.

Schauen wir über den Rand unseres Planeten hinaus, so sehen wir das Universum angefüllt mit mehr oder weniger geordneten und ungeordneten Strukturen, deren Grössenskalen von unserem Sonnensystem und seinen Planeten, über Galaxien und ihre Haufen, bis zu diffus verteilter Materie und Strahlung reichen. Und in je grösseren Dimensionen wir das Universum betrachten, umso mehr verschwimmen die Einzelheiten. Wir nähern uns immer mehr bei grossen Skalen einem homogenen und isotropen Universum. Aber auch hier lassen sich auf jeder dieser Skalen Muster erkennen, wie zum Beispiel Edwin Hubble’s Klassifikation der Galaxien4 zeigt.

Ein Blick in die umgekehrte Richtung, zu den kleinsten Dimensionen, zu denen unsere Instrumente vordringen können. Hier finden wir den gesamten Zoo der vielen Hundert verschiedenen Teilchen, die bei genügend hoher Temperatur früher das Universum bevölkert haben, und die wir noch heute bei genügend hohen Energien erzeugen können, unter Beachtung gewisser recht einfacher Regeln. Soweit wir wissen, sind sie alle zusammengesetzt aus Leptonen wie dem Elektron und Quarks wie dem up- und down-Quark, die die Kernbausteine Proton und Neutron bilden. Von allen gibt es noch zwei schwerere Kopien, aus Gründen, die nicht 100% klar sind. Das ganze bildet eine Art Periodensystem der Materie, mit 12 elementaren Teilchen.
Und die elementaren Kräfte, denen sie unterliegen, sind ebenso «einfach»: elektromagnetische Wechselwirkung, schwache und starke Wechselwirkung werden wieder durch Teilchen übertragen.  Soweit wir wissen, sind alle diese Teilchen punktförmig und habe keine interne Struktur.  Sollte das zutreffen, wären sie im wahren Wortsinne „elementar“.

Seit der Erfindung von Photoshop lässt sich sogar Kunst « aufräumen », allerdings nur im satirischen Sinne5. Denn Vielfalt und Komplexität ist in den Genen der Kunst. Sie allein erlaubt es, neue Universen zu erschaffen, die nicht dem unseren angehören mögen. Wenn auch «nur» im Kopf des Künstlers und Betrachters. Wir kommen, wenn Sie mögen, später darauf zurück. Neben seinem satirischen Gehalt ist dies ein gutes Beispiel dafür, dass Ordnung normalerweise geschaffen werden muss. Das braucht einen äusseren Einfluss, eine ordnende Hand (wie beim Kinderzimmer). Oder einen inneren Zwang.

Können wir also die Entwicklung des Universums zurückverfolgen? Vom Leben auf der Erde zurück zu einer Urzelle? Das scheint in der Tat möglich, wie die NZZ unlängst meldete6. Von der Urzelle gelangen wir mit unserem reduktionistischen Gedankengang zu Urmolekülen und Urelementen, wie Wasserstoff und Helium. Sie sind früh in der Geschichte des Universums entstanden, innerhalb der ersten paar Minuten seiner Existenz. Diesen Elementen und ihre schwereren Brüdern, die in Sternen zusammengekocht werden, spüren wir heute im Weltraum zum Beispiel mit dem AMS Experiment auf der Internationalen Raumstation nach. Wir wollen verstehen, wie sie entstehen, zu den phantastischen Energien beschleunigt werden, die wir beobachten, und wie sie zu uns gelangen. Und damit nähern wir uns dem Anfang von allem, dem Urknall, der vor etwa 13.7 Milliarden Jahren unser Universum entstehen liess. Ein Bild des wahren Urknalls kann es nicht gebe. Das älteste «Foto» des Universums stammt von der kosmischen Hintergrundstrahlung, die entstanden ist, als das Universum bereits etwa 380’000 Jahre alt war. Davor war es im wörtlichen Sinne undurchsichtig.

Wir dürfen uns aber unter dem Urknall nicht etwa eine Explosion vorstellen, die in einem leeren, schon existierenden Raum stattfindet. In Wirklichkeit war im Urknall eine riesig grosse aber endliche Menge Energie in einem mathematischen Punkt vereinigt. Raum und Zeit waren ebenfalls auf einen Punkt reduziert und dehnen sich seitdem kontinuierlich aus, zusammen mit ihrem Inhalt. Und wir mögen träumen, dass das Universum am Anfang wirklich EINS war: reine Energie, ein Punkt in der Raum-Zeit, die sich von dort aus ausdehnt, und eine universelle Kraft, die das alles antreibt. Soweit so gut. Aber wie können überhaupt Dinge entstehen, die vorher nicht da waren? Unter welchen Umständen ordnen sie sich zu den Strukturen der vielgestaltigen Welt, die uns umgibt?

In der Tat ist so etwas in der klassischen Physik nicht recht vorgesehen. Der Massenpunkt der klassischen Mechanik kann nicht entstehen und vergehen. Die elektrische Ladung entsteht und vergeht ebenso wenig. Nur in der Thermodynamik werden u.a. chemische Reaktionen beschrieben, bei denen Neues entsteht, allerdings aus existierenden Einzelteilen. Betrachten Sie eine einfache chemische Synthese: Aus dem Metall Natrium, das mit Wasser explosionsartig reagiert, und dem giftigen Gas Chlor entsteht Natriumchlorid, das ordinäre Kochsalz.
Ein Grund, warum Neues entsteht, ist dass Ordnung, wie zum Beispiel die räumliche Trennung von Einzelteilen, keinen Bestand hat. Weil der Zufall sich einschaltet und das System vor sich hertreibt. Und neue Eigenschaften entstehen lässt aus den Wechselwirkungen zwischen den Komponenten.

In der makroskopischen Welt kennen wir diese Tatsache wieder aus der Thermodynamik. Dort entsteht Unordnung von selbst, wenn ein System eine grosse Anzahl von Komponenten aufweist. Die ursprüngliche Ordnung, die z.B. Tinte in Tropfen vom Wasser trennt, strebt über einen komplexen Zwischenzustand in einen Zustand des Gleichgewichts, der Gleichverteilung der Tinte, der maximalen Unordnung. Man nennt diesen Vorgang Dissipation. Sie passiert schneller in heissem als in kaltem Wasser, aber selbst in kaltem ist am Ende der Tropfen vollständig aufgelöst. Dieser Vorgang ist unumkehrbar. Man kann zwar die Tinte wieder vom Wasser trennen, Volumen und Farbe bestimmen, aber Anzahl und Form der Tropfen kann man nicht rekonstruieren. Das ist kein Wunder: ein Schnapsglas Wasser enthält etwa 6×1023 Moleküle. Das ist eine unanschauliche Zahl, deshalb eine kleine Analogie: Bekämen Sie für jedes Wassermolekül in einem Tropfen auch nur einen Rappen, könnten Sie die griechischen Schulden mehr als 500’000 mal bezahlen!

In Systemen mit einer grossen Zahl von Teilnehmern, wie den Molekülen von Tinte und Wasser, ist deren individuelles Verhalten nicht beobachtbar. Ihre Eigenschaften liegen nicht fest, sondern sind gemäss einer Wahrscheinlichkeitsverteilung verteilt, die man mit wenigen Parametern beschreiben kann. Ein Beispiel ist die Verteilung der Geschwindigkeiten der Moleküle in einem Gas, die Maxwell-Verteilung. Ihr Mittelwert steigt mit der Temperatur, und ihr Schwanz zu höheren und kleineren Geschwindigkeiten wird länger. Wärme, also Energie, ist der Motor des Systems.

Entropie ist dagegen das physikalische Mass für den Grad an Unordnung in einem System. In abgeschlossenen Systemen kann die Entropie, also die Unordnung, nur zunehmen, nicht abnehmen. Die Geschwindigkeit, mit der das passiert, hängt von der Temperatur ab. Energie ist der Motor thermischer Vorgänge; Entropie ist der Pilot, der sagt, in welche Richtung es geht. Und ohne äusseren Einfluss geht es immer in die gleiche Richtung: von der Ordnung zur Unordnung. Das liegt daran, dass die Anzahl möglicher ungeordneter Konfigurationen mit wachsender Anzahl der Bestandteile exponentiell zunimmt, während die Anzahl geordneter Konfigurationen klein bleibt. Der Zufall bevorzugt damit die Unordnung. Eigentlich kein Wunder.

Auch in der subatomaren Welt mischt sich der Zufall ein, selbst in Systeme mit wenigen Konstituenten. Das liegt an den Gesetzen der Quantenmechanik. Und diese Gesetze erlauben in der Tat, dass Neues spontan entsteht. Neue Objekte, die vorher nicht vorhanden waren, und sogar solche, deren Bestandteile auch nicht vorhanden waren. Schon deshalb, weil sie wohl keine Bestandteile haben, so wie Elementarteilchen. In diesem Beispiel sehen Sie gleich drei Teilchenreaktionen, die denen Dinge entstehen, die vorher nicht da waren. Von links nach rechts läuft ein Photon, ein Lichtteilchen, in eine Blasenkammer ein und wird an einem Atomelektron gestreut. Gleichzeitig entsteht ein Elektron-Positron-PaL'ordre n'a pas d'importancear. Das Photon läuft aber weiter und wird wenig später im elektromagnetischen Feld eines weiteren Atoms in ein Elektron-Positron-Paar verwandelt. Es entstehen also nicht weniger als vier Teilchen, zwei Elektron-Positron-Paare, die vorher nicht da waren. Dafür verschwindet ein Photon. Wir sehen also, dass Materie und Kräfte entstehen und vergehen können, wenn dabei gewisse Regeln beachtet werden, Energie, Ladung und ähnliches betreffend.

Aber die Bewegung eines einzigen Teilchens folgt keiner Trajektorie, keiner glatten Kurve, wie es in der klassischen Physik der Fall war, und wie unser Blasenkammerbild es suggeriert hat. Teilchen sind punktförmige Objekte, bewegen sich aber wie Wahrscheinlichkeitswellen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu finden, ist gegeben durch das Quadrat der Welle. Ort und Geschwindigkeit liegen nicht fest, sondern folgen einer Verteilung, gekoppelt über Heisenberg’s Relation.

Was sind die besonderen Eigenschaften von Wellen? Sie sind an mehr als einem Ort aufs Mal und sie überlagern sich gegenseitig. Wir kenne das z.B. von Wasserwellen. Wellenberge und -täler befinden sich an vielen Orten gleichzeitig. Hindernisse erzeugen neue, kreisförmige Wellen, die sich der ursprünglichen überlagern. Auch dort sind Berge und Täler an vielen Orten gleichzeitig. Das gleiche passiert bei einer Teilchenreaktion. Das einlaufende Teilchen ist an mehr als einem Ort präsent. Der einlaufenden Welle überlagert sich die durch die Streuung entstandene. Aber die ursprüngliche ist immer noch da! Eine Reaktion kann stattfinden, oder eben nicht. Und meistens tut sie es nicht…

Wieder finden wir also nicht etwa festgelegte Eigenschaften unserer Ingredienzien, sondern Verteilungen ihrer Wahrscheinlichkeit. Wie eine solche Verteilung, die Gauss‘sche Glockenkurve, aus einfachen ja/nein-rechts/links Entscheidungen entsteht, veranschaulicht sehr schön das sogenannte Galton-Brett7. Die an einem gemeinsamen Ort einlaufenden Kügelchen werden durch die Hindernisse entweder nach rechts oder nach links gestreut, mit jeweils 50% Wahrscheinlichkeit. Durch die Aneinanderreihung dieser zufälligen Verzweigungen entsteht eine Gaussverteilung ihres Ortes. Für Wellen ist das Ganze noch schlimmer, weil sie sowohl rechts wie links vom Hindernis vorbeilaufen und eine kreisförmige gestreute neue Welle noch hinkommt.

Der Zufall schafft also Neues, verwischt aber auch die Spuren. Wir können nicht nachzeichnen, wie dieses Universum entstanden ist, wohl aber wie ein solches Universum entstehen kann. Nicht wie diese Milchstrasse entstanden ist, wohl aber eine wie diese, ein Planet wie die Erde, eine Zelle wie ein Neuron, ein Netzwerk wie unser Gehirn. Leider betrifft all dies grandiose Wissen nur weniger als 5% des Energie-Inhalts des Universums. Der Rest ist, was man dunkle Materie und dunkle Energie nennt.

Es fehlen uns also eminent wichtige Ingredienzien zu einem Modell des Universums. So wissen wir, dass Dunkle Materie alle bekannten Galaxien unsichtbar umgibt und über deren äusserste Sterne hinausreicht. Sie manifestiert sich mittels ihrer Gravitationseffekte; Licht wird weder abgegeben, noch reflektiert oder absorbiert. Könnte man sie sehen, erhielte man ein bläuliches Halo wie in dieser Simulation. Die Gesamtmasse überwiegt normale Materie deutlich, die Bestandteilchen sind unbekannt. Wir wissen ausserdem, dass eine unbekannte Energieform, Dunkle Energie genannt, den ganzen Raum durchdringt und die Expansion des Universums beschleunigt (und dabei der Schwerkraft entgegenwirkt). Obwohl ihre Dichte wesentlich geringer ist als jene der Materie innerhalb von Galaxien, dominiert sie den Energieinhalt des Universums durch ihre Omnipräsenz.

Last but not least verstehen wir zwar, wie Gravitation im grossen Massstab den Raum krümmt und damit diese am längsten bekannte Naturkraft überträgt. Wie sich das aber auf subatomare Distanzen übertragen lässt, ist weiterhin unbekannt. Wir wissen nicht, ob zur Gravitation ein quantisiertes Feld gehört wie zu den übrigen Naturkräften und Materieteilchen auch. Das ist und bleibt vorerst ein Stachel im Fleisch der modernen Physik; immerhin handelt es sich ja eben um die am längsten bekannte Naturkraft. Es hat aber wenig praktische Konsequenzen, weil die Gravitationskraft so schwach ist.
Kommen wir zu unserer ursprünglichen Frage zurück. Gibt es eine universelle Ordnung, und wenn ja, können wir sie erkennen? Ja sogar nutzen, um die Zukunft vorherzusehen? Das menschliche Gehirn verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, essentielle Informationen aus den verrauschten und oftmals deformierten Signalen unseres Sinnessystems herauszufiltern. Das scheint mir besonders dann der Fall zu sein, wenn das zu erkennende Muster wichtig ist für unser Überleben, oder zu unserem Bildungskanon gehört. Ein Beispiel für den ersten Mechanismus sehen Sie hier. Viele Kinder verdanken ihr Leben dem Reflex des Autofahrers, der Informationen direkt an die Muskeln weiterleitet, ohne Verarbeitung durch das Gehirn. Diese Fähigkeit hat die Evolution fest in unserem Nervensystem verdrahtet. Wir teilen sie mit den meisten Tieren.

Schon erstaunlicher ist es, wie wir lernen können, unklare Sinneseindrücke einzuordnen. Es fällt Ihnen sicher nicht schwer, in all dem Rauschen und Kratzen einer alten Schellack-Platte die Stimme von Maria Callas herauszuhören, selbst wenn ich unhöflicherweise weiterspreche.  Erlerntes ist kein fest verdrahtetes Wissen. Vielmehr formen Erziehung, Bildung und Wiederholung das Netzwerk unseres Gehirns und erleichtert uns das Erkennen unklarer Muster. Und Alzheimer kann diese Strukturen in erschreckend kurzer Zeit zerstören.

Dasselbe gilt für visuelle Eindrücke. Sie erkennen in Pablo Picasso’s Verfremdungen unschwer die Infanta von Velasquez. Und selbst wenn man die Gioconda stark verpixelt, macht es in Ihrem Gehirn sofort «klick». Karl Popper sagt dazu in Objektive Erkenntnis8:

«In der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt eignet sich der Mensch empirisches Wissen an und verdichtet es zu einer Theorie, um mit einer geringeren Menge an Informationen seine Handlungen richtig steuern zu können.»

Mir scheint, dass sich diese Vorgehensweise nicht nur auf unsere Handlungen anwenden lässt. In manchen seiner Werke reflektiert der Genfer Künstler Christian Gonzenbach über das Verhältnis von innen und aussen, von Oberfläche und Volumen, von Präsenz und Absenz. Bei einigen seiner Keramiken hat er sozusagen das Äussere nach Innen gekehrt9 . Und doch braucht es nicht viel Phantasie, um darin bekannte Büsten wie z.B. die der Madame Pompadour zu erkennen. Wir erkennen insbesondere periodische Vorgänge wie Wellen in all ihren (Ausdrucks-) Formen; wir extrahieren sinusförmige, periodische Muster, sogar wenn sie – wie etwa am Strand – überlagert und phasenverschoben sind. Mathematiker wie Steven Strogatz glauben, dass dies daran liegen könnte, dass nicht nur wir, sondern die gesamte Natur eine Schwäche für synchronisierte periodische Vorgänge hat. In der Tat scheint es, dass das Gehirn anhand von Erfahrungen und Erinnerungen fehlerhafte Informationen korrigieren, fehlende Information ergänzen und ersetzen kann.

Mustererkennung, ein Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz, entwickelt mathematische Modelle, um diese aussergewöhnliche Fähigkeit verstehen und nachahmen zu können. Die dabei gewonnenen Resultate können vielfältig eingesetzt werden, etwa bei industriellen Verfahren oder der Analyse wissenschaftlicher Daten. Diese Art des Zugangs reiht sich heute ein in das generelle Studium komplexer Systeme, ihrer räumlichen und zeitlichen Ordnungsmechanismen und ihrer Dynamik. Das Studium komplexer Systeme kann helfen, zu erkennen, wie und unter welchen Umständen geordnete Strukturen aus (vielleicht scheinbarer) Unordnung entstehen.

Large Hadron Collider, Cern Genf
Large Hadron Collider, Cern Genf

Dabei geht es zunächst einmal um räumliche Strukturen, die wir mit Rastertunnelmikroskopen bis hinab auf das atomare Niveau untersuchen können. Es geht aber auch und vor allem darum, die zeitliche Entwicklung von chemischen und biologischen Systemen und ihre Dynamik zu verstehen. Dazu brauchen wir Lichtquellen, wie die Swiss Light Source am Paul-Scherrer-Institut in Villigen. Und schlussendlich, auf dem Niveau von Quarks und Leptonen, eben auch Teilchenbeschleuniger, wie den Large Hadron Collider am CERN in Genf. Und gewaltige Teilchendetektoren wie z.B. ATLAS.

Das Studium komplexer Systeme kann helfen, zu erkennen, wie Ordnung und Unordnung zeitlich zusammenhängen. Wie Systeme sich unter Zwang oder spontan ordnen. Und wie diese Ordnung unter dem Einfluss der Entropie wieder zerfällt. Das Studium komplexer Systeme mag weiter helfen, die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis über unser Universum kritisch zu hinterfragen und vielleicht voranzutreiben. Ebenso mag es helfen, das immense Potential künstlerischen Wirkens einzuschätzen: es ist dies ja leider die einzige Kraft, mit der Menschen neue Universen schaffen können. Die müssen wir mit grossem Ernst studieren. Meiner Meinung nach mit dem gleichen Ernst wie was Universum, in dem wir leben. Und vielleicht stellen wir fest, dass solche Universen aus einfachen Algorithmen entstehen können.

Während wir auf weitere Fortschritte warten, habe ich eine eigennützige Bitte. Liebe postmoderne Philosophen und Erkenntnistheoretiker, lasst uns noch ein wenig unseren Traum vom einheitlichen, einfachen Universum weiterträumen, auch wenn wir inzwischen zugeben müssen, dass wir seine Entwicklung und deren Mechanismen nur in groben Zügen und recht pauschal werden nachzeichnen können. Vielleicht gibt es sie ja doch, Johannes Keppler’s Harmonices Mundi10, die der Reduktionismus uns vorgaukelt. Und wenn wir Glück haben, haben sie vielleicht mathematische Grundlagen, die wir verstehen können.

Zu Abschluss ein Zitat aus einem meiner Lieblingsbücher von Steven Weinberg11, einem der Schöpfer der auf Symmetrien fussenden Quantenfeldtheorie der heutigen Teilchenphysik. Die deutsche Übersetzung ist wieder von mir:

« Naturwissenschaftliche Erklärung ist eine Verhaltensweise, die uns Genuss bereitet, wie Liebe oder Kunst. Die beste Art, die Natur wissenschaftlicher Erklärung zu verstehen, ist es, den eigentümlichen Stich zu erfahren, den man verspürt, wenn es jemandem (am besten einem selbst) gelingt, wirklich etwas zu erklären. »

Weinberg bezeichnet sich selbst als einen „compromising reductionist“. Dieser häretischen Grundhaltung kann ich mich nur anschliessen.

Teilchenreaktion (ATLAS-Experiment beim Grossen Hadronen-Speicherring des CERN). Die Spuren, welche die erzeugten Teilchen hinterlassen, werden von einem Computer-Algorithmus analysiert, zu Spuren reduziert (orange) und Energiedepots zugeordnet (Vierecke). Die Krümmung der Spuren hängt von ihrer Energie ab. Die Erzeugnisse der Reaktion mit den grössten Energien hinterlassen beinahe gerade Spuren (rot). Foto: ATLAS Experiment © CERN 2014
Teilchenreaktion (ATLAS-Experiment beim Grossen Hadronen-Speicherring des CERN). Die Spuren, welche die erzeugten Teilchen hinterlassen, werden von einem Computer-Algorithmus analysiert, zu Spuren reduziert (orange) und Energiedepots zugeordnet (Vierecke). Die Krümmung der Spuren hängt von ihrer Energie ab. Die Erzeugnisse der Reaktion mit den grössten Energien hinterlassen beinahe gerade Spuren (rot). Foto: ATLAS Experiment © CERN 2014

Glossar
ATLAS: Experiment der Teilchenphysik am ⇒ Grossen Hadronen-Speicherring des ⇒ CERN. Etwa 3‘000 Wissenschaftler aus 38 Ländern haben diesen Detektor für Teilchenreaktionen bei hohen Energien konstruiert und analysieren seit 2008 entstehende Daten. ATLAS ist 46 m lang, 25 m im Durchmesser, birgt ca. 3‘000 km Kabel und wiegt etwa 7‘000 t. Es entdeckte im Jahr 2013 das ⇒ Higgs-Teilchen zusammen mit CMS.

Atom: Materieeinheit, die chemische und physikalische Eigenschaften definiert. Ein Atom besteht aus einem kleinen von Elektronen umgebenen Atomkern. Alle Feststoffe, Flüssigkeiten und Gase bestehen aus Atomen oder deren Molekülen.

CERN: Europäische Organisation für Kernforschung; eine Forschungsorganisation, die das weltweit grösste Teilchenphysiklabor betreibt. Die Organisation wurde 1954 gegründet, befindet sich nahe Genf an der Schweizer Grenze zu Frankreich und zählt 21 Europäische Mitgliedsstaaten. Das CERN baute und betreibt den ⇒ Grossen Hadronen-Speicherring.

Dunkle Energie: Unbekannte Energieform, die den ganzen Raum durchdringt und die Expansion des Universums beschleunigt (und dabei der Schwerkraft entgegenwirkt). Obwohl ihre Dichte wesentlich geringer ist als jene der Materie innerhalb der Galaxien, dominiert sie den Energieinhalt des Universums durch ihre Omnipräsenz.

Dunkle Materie: Unbekannte, unsichtbare Form der Materie, die alle ⇒ Galaxien umgibt und über deren äusserste Sterne hinausreicht. Sie manifestiert sich mittels ihrer Gravitationseffekte; Licht wird weder abgegeben, noch reflektiert oder absorbiert. Die Gesamtmasse überwiegt normale Materie deutlich, die Bestandteilchen sind unbekannt.

Energie: Eigenschaft von Teilchen, die deren Bewegung (kinetische Energie) und Wechselwirkung (potentielle Energie) ermöglicht. Mittels elementarer Wechselwirkungen kann Energie zwischen Teilchen übertragen, jedoch weder geschaffen noch vernichtet werden. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen (mechanische, chemische, thermische, etc.) welche ineinander umgewandelt werden können.

Entropie: Masseinheit, welche die Anzahl spezifischer Systemanordnungen beschreibt, gemeinhin als Mass für Unordnung bekannt. Die Entropie eines isolierten Systems nimmt nie ab; das System entwickelt sich spontan hin zum Erreichen eines thermischen Gleichgewichts, der Konfiguration mit maximaler Entropie. In nicht isolierten Systemen kann sie abnehmen, vorausgesetzt, die Entropie ihrer Umgebung vergrössert sich um mindestens die gleiche Menge.

Feld: Physikalische Grösse mit einem bestimmten Wert für jeden Punkt in Raum und Zeit. Beispiele sind Temperatur-, Druck- und Windgeschwindigkeitsfelder in der Meteorologie, oder auch elektrische und magnetische Felder in der Elektrodynamik.

Galaxie: Gravitation bindet dieses System aus Sternen (-überresten), Schwarzen Löchern und interstellarem Medium (Staub, Gas) sowie ⇒Dunkler Materie. Unsere Galaxie heisst Milchstrasse. Galaxien sind nicht gleichförmig verteilt, sie bilden Haufen.

Gauss-Verteilung: In der Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Normal- oder Gaussverteilung eine stetige ⇒ Wahrscheinlichkeitsverteilung, welche die Wahrscheinlichkeit beschreibt, dass ein gemessener Wert zwischen zwei Schranken fällt. Die Funktion des gemessenen Werts hat eine symmetrische Glockenform, gekennzeichnet durch die Position ihres Maximums (Mittelwert) und ihre Breite (Varianz).

Higgs-Feld: Allgegenwärtiges Quantenfeld, welches mit den meisten Teilchen wechselwirkt und sie so verlangsamt. Nur massebehaftete Teilchen bewegen sich langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit, also generiert das Higgs-Feld auf dynamische Weise die Masse der Elementarteilchen. Das Higgs-Teilchen wurde 2013 mittels der Experimente ⇒ ATLAS und CMS am ⇒ CERN entdeckt und ist das ⇒ Quant des Higgs-Feldes.

Grosser Hadronen-Speicherring: Der weltgrösste Hochenergie-Teilchenbeschleuniger am ⇒ CERN lässt in Teilchendetektoren wie ⇒ ATLAS Protonen kollidieren. Er wird 2015 seine Energie verdoppeln und dient der Analyse bekannter Teilchen und ihrer Wechselwirkungen und der Entdeckung neuartiger Teilchen wie des ⇒ Higgs-Teilchens.

Licht: Elektromagnetische Welle aus periodisch variierenden elektrischen und magnetischen ⇒ Feldern. Das Photon ist das ⇒ Lichtquant. Masselos, da es nicht mit dem ⇒Higgs-Feld wechselwirkt, bewegt es sich mit Lichtgeschwindigkeit, einer universellen Konstante, welche die grösstmögliche Geschwindigkeit darstellt.

Wahrscheinlichkeit: Reelle Zahl zwischen 0 und 1. In repetitiven Phänomenen steht sie für die Anzahl der Ereignisse (Erfolge) geteilt durch ihre Höchstzahl (Versuche), bei einmaligen (Wetter morgen) für die Chance, dass ein Phänomen (Regen) eintrifft. Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind mathematische Funktionen für die Wahrscheinlichkeit, dass ein gemessener Wert(-bereich) erzielt wird.

Quant: Minimalmenge einer physikalischen Grösse involviert in eine Wechselwirkung. Felder wie das elektromagnetische sind in Form von Teilchen (z.B. Photonen) quantisiert. Alle Teilchen sind Quanten ihres jeweiligen ⇒ Feldes. Energien (z.B. von Elektronen in ⇒ Atomen) sind ebenfalls quantisiert und können lediglich bestimmte Werte annehmen.

Martin Pohl 2015

1 Erweiterte und revidierte Fassung eines Vortrags im Haus Konstruktiv, Zürich, im Rahmen der Ausstellung «Quantum of Disorder», 11. März 2015
2 F. Heylighten, P. Cilliers and C. Gershenson, Complexity and Philosophy, in Jan Bogg and Robert Geyer Edt., Complexity, Science and Society, Radcliffe Publishing, Oxford
3 Carl von Linné, Systema Naturae, 1735
4 E.P. Hubble (1927). The Classification of Spiral Nebulae. The Observatory 50: 276
5 Siehe z.B. Ursus Wehli, Kunst aufräumen, Zürich, Kein & Aber, 2002
6 Neue Zürcher Zeitung, Evolution im Reagenzglas, Der künstlichen Urzelle einen Schritt näher, 10.12.2013, www.nzz.ch
7 Siehe z.B. www.youtube.com
8 Karl Popper, Objektive Erkenntnis. 2. Auflage. Hamburg 1974
9 siehe z.B. www.keramis.be
10 Ioannis Keppleri Harmonices mundi libri V, 1619
11 Nach Steven Weinberg, Dreams of a Final Theory, 1993

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